Liebe Forscher:innen, als Studierender der Literaturwissenschaft ist mir aufgefallen, dass in den Lehrveranstaltungen so gut wie nie Graphic Novels/Comics behandelt werden. Dies liegt vermutlich einerseits an der Unterscheidung zwischen Hochkultur und Popkultur und andererseits daran, dass dieses Medium nicht primär bzw. wesentlich textbasiert ist – auch wenn Texte darin durchaus präsent sind und ein hohes Maß an Literarizität bzw. Poetizität aufweisen können. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Graphic Novel Feeding Ghosts den Pulitzer-Preis in der Kategorie „Memoir or Autobiography“ gewonnen hat („An affecting work of literary art and discovery whose illustrations bring to life three generations of Chinese women.“ [Quelle: https://www.pulitzer.org/prize-winners-by-category/650]), wodurch die Diskussion um die Frage „Was gehört zur Literatur?“ erneut angestoßen wird, stellt sich mir folgende Frage: Gibt es literaturwissenschaftliche Bestrebungen und/oder theoretische Frameworks (z. B. im Bereich der Text-Bild-Theorie), um dieses Medium in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft zu integrieren?
Lieber Patric,
sorry für die verzögerte Antwort: Ich habe deine Frage nicht vergessen…
Also, ich bin zwar kein Spezialist für Narratologie, habe mich aber lange mit dem Verhältnis von Text und Bild beschäftigt. In den Text-and-Image Studies, oder allgemeiner gesprochen: in den Intermedia Studies, spielen Graphic Novels (GN) eine zunehmend wichtige Rolle. Den internationalen Durchbruch als anerkanntes literarisches (Sub-)Genre haben die GN mit Art Spiegelmans Maus in den 1980er und 1990er Jahren geschafft. Diese Entwicklung wurde – mit der üblichen europäischen und noch einmal helvetischen Stilverspätung – in der Schweiz erst in den 2010er Jahren mit Nando von Arps Drei Väter nachvollzogen. Inzwischen kann man durchaus davon sprechen, dass die GN zu den kanonisierten neuen literarischen Gattungen gehören.
Ob sie in der europäischen Narratologie jedoch bereits ganz neue Theorieansätze hervorgebracht haben, weiss ich nicht. Hier ist es wichtig, auf die kulturellen Unterschiede zwischen dem anglophonen, frankophonen und germanophonen Wissenschafts- und Kulturraum hinzuweisen. Während in den USA und in Frankreich die Vorgeschichte der GN historisch weit zurückreicht und mit den Comics bzw. der bande dessinée kulturell tief verankert ist, kämpft die graphische Literatur im deutschsprachigen Raum weiterhin mit alten Vorurteilen gegenüber populärer (und damit implizit „minderwertiger“) Lektüre. Seit den Alphabetisierungskampagnen des 18. Jahrhunderts werden in diesem Zusammenhang immer wieder sogenannte „Schmutz- und Schund“-Debatten geführt.
Für den frankophonen Kontext kann ich auf die Arbeiten meines Lausanner Kollegen Raphaël Baroni hinweisen, dessen Forschungsinteressen an der Schnittstelle von Narratologie und Intermedialität liegen – mit einem besonderen Fokus auf die französischsprachige bande dessinée.
Was die Germanistik in Deutschland und der Schweiz betrifft, so gibt es dort bislang nur zaghafte und verspätete Annäherungsversuche. Immerhin sass ich vor wenigen Jahren in einer Berufungskommission, bei der eine Kollegin aufgrund eines Vortrags zu Kafka-Adaptationen berufen wurde, in dem Graphic Novels eine – wenn nicht die – entscheidende Rolle gespielt haben.
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